New Work: Digitalisierung – Holt euch die Querdenker ins Haus
Dass es um den Grad der Digitalisierung in deutschen Unternehmen und Amtsstuben sowie mit der digitalen Infrastruktur insgesamt nicht zum Besten bestellt ist, hat sich inzwischen herumgesprochen.
Sowohl Meta-Studien als auch Einzelstudien weisen auf den digitalen Notstand hin. Dass die aktuelle Telekom-Studie für deutsche Verhältnisse extrem oft via Twitter geteilt worden ist, spricht Bände.
So geht es anscheinend darum, dass zwar einerseits viele Anwender und Experten um den Missstand und die mögliche Auswege aus der Misere wissen, sich aber andererseits gar nicht in etablierten, verkrusteten und hierarchischen Strukturen der überholten Industriegesellschaft wiederfinden oder durchsetzen können.
Das Ergebnis dieser Verkrustung können wir – zugespitzt – wie folgt umschreiben:
- Der Grad der Digitalisierung (Nutzung, Infrastruktur, Geschäftsmodell) ist nicht nur nicht hoch; er ist im internationalen Vergleich beängstigend gering.
- Wenn in Unternehmen Initiativen zu Änderungen ergriffen werden, müssen sie stets von „oben“ kommen, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Das Prinzip des „oben“ ergibt aber im digitalen Raum eigentlich keinen Sinn.
- Es gibt nur eine Minderheit von Arbeitnehmern (deutlich weniger als 50%), die eine Digitalisierung am Arbeitsplatz begrüßt, willkommen heißt oder sogar schon lebt.
- Dieser sowieso schon beängstigend kleinen Minderheit werden im Unternehmen auch noch Hürden bezüglich der Nutzung von Technik des Vorlebens einer analogen Unternehmenskultur in den Weg gestellt.
Die deutsche potemkinsche Unternehmensrealität
Statt eines digitalen Aufbruchs erleben wir einen umfangreichen Aufbau unternehmensinterner pontemkinscher IT-Dörfer mit zentralen IT-Richtlinien, zentralisierter IT-Infrastruktur und der Anwendung von Managementsoftware namhafter Hersteller. Was als vermeintliche eierlegende Wollmichsau daherkommt, nutzt dem Nutzer und dem Arbeitnehmer aber in keiner Weise, kreativ und digital seine Tätigkeit zu verrichten.
Potemkinsche Dörfer deshalb, weil die digital affinen Menschen in den Unternehmen längst unter der Überschrift des BYOD eine eigene private Infrastruktur aufbauen, mit der sie dann auch fähig sind, der gestiegenen Geschwindigkeit von Arbeits- und Entscheidungsfindungsprozessen außerhalb der gefühlten Mauern ihrer eigenen Unternehmen gerecht zu werden.
Im Fokus der Ursachen für diese Politik der zwei Unternehmensrealitäten steht das immer wiederkehrende Missverständnis, dass Technisierung mit Digitalisierung gleichzusetzen wäre. Dies ist leider ein tragischer Fehler, da er Kultur- und Haltungsfragen, die Wertschätzung von Menschen, das Teilen von Wissen und die Erfahrung gemeinsamen Arbeitens jenseits institutioneller politischer Logiken vollkommen außer acht lässt.
Szenario 2030: Kampf um Arbeitsgelegenheiten?
Gleicht man diesen deutschen Ist-Zustand mit Eckpunkten globaler Szenarien ab, so muss man sich um den „digitalen Standort“ – welch semantischer Widerspruch – große Sorgen machen:
- Die Arbeitslosigkeit wird global ab 2030 stark ansteigen, da immer mehr Arbeitskräfte durch Roboter und Algorithmen ersetzt werden.
- Menschen werden arbeitstechnisch auch auf der Ebene des einzelnen Individuums mit Robotern und Algorithmen verschmelzen und so die Produktivität des Arbeitnehmers erhöhen.
- Software wird zum Arbeitgeber und entscheidet – wie heute schon bei Uber – über Einsatzmöglichkeiten und Gehaltsoptionen.
- Die Menschen werden sich zunehmend nach digitalen Kompetenzen unterscheiden. In Folge der alles durchdringenden Digitalisierung bedeutet bewusste und dauerhafte Online-Abstinenz zukünftig, nicht mehr umfassend am sozialen Leben sowie am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können.
- Zusammen mit dem erwarteten Anstieg der durch Roboter verursachten Arbeitslosigkeit und der für ca. 2030 erwarteten technischen Singularität – Maschinen entwickeln sich schneller und komplexer als der Mensch es verstehen oder vorhersehen kann – wird eine Debatte um die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens erneut und dann auch substanziell an Bedeutung gewinnen.
Wie entwickelt man nicht zu ersetzende Kreativität?
Eigentlich wäre es angesichts dieses Szenarios sinnvoll, wenn sich alle am Arbeitsmarkt und am Bildungssystem beteiligten Akteure Gedanken dazu machen würden, wie sie denn mit den Herausforderungen umzugehen gedenken. Für den Einzelnen bedeutet dies, sich Gedanken über die Selbstbeschäftigungsfähigkeit zu machen. In welcher Weise könnte man nicht zu ersetzende Kreativität entwickeln? Es sollte sich weniger auf das Erlangen formaler Zertifikate fokussiert werden und vielmehr gefragt werden, wofür man selbst steht und in welcher Weise die Arbeit im Netz sichtbar werden könnte.
Für die HR-Abteilungen der Unternehmen bringt dies auf der anderen Seite des Arbeitsmarktes einen angepassten Auswahlmechanismus mit sich, der zukünftig ebenfalls zunehmend vom Algorithmus bestimmt werden könnte, wenn nicht sogar sollte. Welche Eigenschaften der Arbeitnehmer werden zukünftig gewünscht? Suche ich als Arbeitgeber weiterhin die formal Zertifizierten, bei denen ich als Arbeitgeber aber nicht weiß, wie authentisch die Arbeitskraft in ihrer Arbeit letztlich sein wird?
Gerade Authentizität wird aber immer wichtiger werden. Wieso weichen Tech-Firmen und Start-ups schon heute substanziell von tradierten Auswahlverfahren ab? Weil sie inzwischen die Erfahrung gemacht haben, dass Laufbahnkarrieristen wenig sinnvoll für diese Unternehmen sind und dass Persönlichkeit eine wichtige Voraussetzung für starkes Engagement ist. Heute können im Gegensatz zu vergangenen Zeiten zudem bereits 20-Jährige große Netzwerke mit in die Arbeit einbringen, während dies ehemals ein herausragendes Merkmal älterer Führungskräfte war.
Empfehlung für die HR-Abteilungen dieser Republik
Wenn ihr, liebe HR-Abteilungen und KMUs, die digitale Herausforderung meistern wollt, holt euch die kreativen Querdenker ins Haus! Querdenker ist man nicht, weil man sich selbst so nennt und weil es zur Zeit opportun ist, sich so zu nennen.
Schaut im Netz nach den bisherigen Projekten der Querdenker. Gebt ihnen intern Rückendeckung durch den Vorstand, die Geschäftsführung oder den Inhaber und versorgt sie mit einem Experimentierbudget sowie einer selbstgewählten IT-Infrastruktur. Lasst sie einfach mal machen. Der positive digitale Virus wird sich dann von ganz allein im Unternehmen breit machen und auch jene anstecken, die sich bisher ihren Teil immer nur gedacht, angesichts der verkrusteten Strukturen aber nicht gewagt haben, das auch auszusprechen. Um das alles auch gerade als KMU umzusetzen, benötigt ihr keine großen Beratungsfirmen oder teure neue Bürosoftware. Das einzige, was ihr dafür benötigt, ist der eigene Wille.
Autor
Ole Wintermann
Bertelsmann Stiftung
Dr. Ole Wintermann arbeitet seit 2002 bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er an den Universitäten Kiel und Göteborg/Schweden und bei der Gewerkschaft ver.di tätig.
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